|

Poseidonis Vilius

Die Bergnymphe Orade und Poseidonis Vilius

sonnte sich gerade auf dem tiefgründig smaragdgrün schimmernden Bergsee der sizilianischen Bergwelt im Mittelmeer, hoch oben auf dem Gletschersee.

Sie träumte, rücklings auf der Wasseroberfläche liegend, vor sich hin. Die Sonne über ihr strahlte im herrlichsten Weißgold und sandte ihre lieblich kitzelnden Strahlen der Bergnymphe zu.

Endlich hatte Orade mal wieder Zeit, um ihrer Lieblingsbeschäftigung, nymphenhaft nix zu tun, nachzugehen. Orades Aufgabe als Bergnymphe war es, das Wasser zu reinigen und mit kosmischem Licht energetisch aufzuladen. So bleibt es klar und rein, heilend und erfrischend für alle Lebewesen. Verlassen Nymphen ihren Ort, versiegt die Kraft des Wassers und es wird zu einem toten, abgestandenen Tümpel. Die Nymphen erfüllen das Wasser mit ihrem Licht und ihrer Liebe.

Mit der Sonne und ihren Freunden, den Sylphen der Lüfte, über die kosmischen Energien, über die Bergwelten und Bergseen, zu diskutieren und zu fachsimpeln, das war ihr Lieblingszeitvertreib.

Das Gletscherwasser reinzuhalten in der modernen Zeit, in der sie jetzt lebte, wurde immer schwieriger, da die Menschen die wunderschöne Bergwelt immer mehr mit ihrem unachtsamen Verhalten der Natur gegenüber verschmutzten.

Die Sylphen der Lüfte waren mit der Aufgabe beschäftigt, die Luft zu reinigen und alles Leben mit kosmischer Energie zu erfüllen.

Gerade in dem Augenblick, wo sich die Sonne mit der Bergnymphe und den Sylphen sehr intensiv unterhielt, nahmen sie wahr, dass sich die Schwingung der Umgebung veränderte. Aus den tiefen Höhlen und Wasserquellen des Berges kamen seltsame Töne zu ihnen herauf. Das Gletscherwasser begann sich zu kräuseln und Wellen zu bilden.

In den mit Quellwasser gefüllten Höhlen, in denen die Nymphe zu Hause war, war ein Wesen in großer Panik.

Die Nymphe stand augenblicklich senkrecht im Wasser und fühlte nach, von wo dieser panische Hilferuf herkam. Die Sonne ließ ihre Strahlen in den tiefen Bergsee hineingleiten, die Nymphe zögerte nicht lange. Mit kräftigen Schwanzschlägen sauste sie hinab in die tiefen Unebenen des Bergsees. Mit Hilfe der goldenen Sonnenstrahlen konnte Orade sofort erkennen, von wo diese Wellen ausgesandt wurden.

Der Weg führte die Bergnymphe hinab in einen kanalähnlichen Wasserfall. Durch Grotten hindurch immer tiefer und tiefer in das Bergmassiv der sizilianischen Bergwelt hinein.

Poseidonis Vilius

Im Mittelmeer hatte der jüngere Bruder des Meeresgottes Poseidon sein Revier. Poseidonis Vilius, so sein Name. Er war bekannt dafür, sehr unternehmungslustig zu sein. Poseidonis, der Jüngere, erforschte liebend gerne tiefe Felsenhöhlen des Mittelmeeres, aber auch die höheren Höhlen und Felsenkamine. Was ihm heute zum Verhängnis wurde.

In der Felsenhöhle, die sich immer mehr zu einem engen Schacht verjüngte und bereits mit Süßwasser vermischt war, kam der Poseidonische Vilius in eine prekäre Situation. Seine langen welligen Korkenzieherhaare verfingen sich in dem rissig-spaltigen Felsen. Je mehr er sich drehte und wendete, umso mehr verfingen sich seine Haare darin.

Vilius Poseidonis war ein hervorragender Tiefseetaucher, was er als ein Meeresgott ja auch sein musste. Aber wenn er mit seinen Haaren so verfranzt war, hörte alle göttliche Kunst auf. Langsam aber sicher geriet er in Panik. Er fühlte sich in dem Felsenschacht nicht mehr wohl. Sein panischer Zustand wurde immer schlimmer. Er konnte sich nicht mehr bewegen, weil seine Haare ihn immer mehr einwickelten, so dass er sich selbst zu einem Paket verschnürte.

In seiner größten Panik fiel ihm seine entfernte Verwandte einer Bergnymphendynastie ein. Er wollte sie eigentlich nur mit seiner plötzlichen Gegenwart in ihrem kleinen „Bergseetümpel“ mächtig erschrecken.

Das ging leider gewaltig in seine Fischschwanzflossen-Hose.

Nun war guter Rat teuer! Sollte er seiner Nixenverwandtschaft funken, dass er in Not war?

Nein! Nie und nimmer!

Dieses Nixenvolk (wie er die Bergnymphen schimpfte) konnte er überhaupt nicht leiden. Mit seinen langen Haaren verzappelte er sich immer mehr in den Felsritzen. Vilius kam weder vorwärts noch zurück.

Die Luft in seinem meeresgöttlichen Fischkörper wurde immer weniger. Dadurch wurde die Panik noch schlimmer. Er war der Ohnmacht nahe.

Vilius hatte heute schlechte Karten gezogen – oder gar keine, sonst hätte er besser aufgepasst! Sein Bewusstsein schwand immer mehr und er sah seine Umwelt im Nebel verschwinden.

Orade und ihre Helfer

Genau in diesem Augenblick kam seine verhasste „Nixenverwandtschaft“, die Bergnymphe des sizilianischen Gebirges, bei ihm an. Sofort erkannte Orade die brenzlige Situation, in der sich der jüngere Poseidon befand.

Orade zögerte keine Sekunde und schnitt mit ihrer goldenen Haarkamm-Sichel die Haare von Vilius ab! Nun konnte sie ihren Cousin nach oben ziehen, denn das war der kürzeste Weg. Der Meeresgott war jedoch ein schwerer „Brocken“ und der kleinen Bergnymphe ging sehr schnell die Kraft aus.

In ihrer Not rief sie den großen Waller und den alten Bergsee-Zitteraal um Hilfe.

Der Aal war bereits im Felsenkamin. Aalschnell und wie ein Blitz war er bei der Nymphe und erkannte die Notlage der beiden. Vilius war ins Meeresgottkoma gefallen, was lebensgefährlich für ihn war. Dazu noch die abgeschnittenen Haare, die seine ganze Kraft waren. Und die kleine Orade, die mit ihren Kräften am Ende war. 

Der Waller konnte wegen seiner Größe nicht in den schmalen Schacht hinunterschwimmen, aber er hatte sehr lange Barthaare, die er, wenn nötig, sehr schnell und sehr lange wachsen lassen konnte. Was er jetzt auch gleich tat. Seine Barthaare wurden immer länger und länger. Sie hatten einen feinen Sensor, der gut für die Futtersuche war. Genauso gut konnten sie jetzt helfen, den Meeresgott und Orade zu finden.

Mit Hilfe seiner langen beweglichen Barteln konnte er nun dem Zitteraal helfen, den Vilius herauszuziehen.

Mit allen Kräften, die ihnen zur Verfügung standen, zogen und schoben sie den Vilius aus dem Schacht nach oben. Mit der Zeit wurde dieser immer weiter und so hatten sie für ihre Rettungsaktion mehr Platz. Das Wasser wurde sauerstoffhaltiger und so bekam der bewusstlose Körper von Vilius doch ein wenig mehr „Luft“. Er wurde unruhig, was für die Rettungsaktion auch nicht so gut war. Vilius begann sich unbewusst zu wehren.

Der Zitteraal wusste sich keinen anderen Rat, als den Poseidonis mit einer gehörigen Portion Strom zu lähmen, damit er sich ruhig verhielt. Weiter oben in dem sich immer weiter öffnenden Schacht konnte nun der alte Waller seine Kraft einsetzen und den bewusstlosen Körper von Vilius ganz nach oben ziehen. Die Bergseenymphe hielt sich an der Schwanzflosse von Vilius fest.

Mittlerweile wussten die ganzen Bewohner der oberen Bergwelt Bescheid, was unten im Kamin passiert war. Die Sylphen der Lüfte vom Gebirge über dem Mittelmeer hatten alle Bergbewohner alarmiert. Die kleinen Erdmännlein und Erdweiblein, alle Wichtelvölker, Gnome und Kobolde des Bergwaldes, und die Bergfexe. Sie alle waren gekommen, um bei der Bergung von Poseidonis-Vilius mitzuhelfen.

(Bergfexe sind Bergzwerge. Sie halten die Felsen von kleineren Steinen frei, die immerzu vom Berg herunterfallen)

Sie sammelten Kräuter und Blüten von den Almwiesen und Kiefern- und Tannenspitzen und alles, was dem Wassermann jetzt helfen könnte, um wieder zu Kräften zu kommen. Nur, mit der Nahrung sah es nicht so gut aus. Der Vilius liebte es mit Krabben und Krebsen. Jedoch die Sorte, die er sehr gerne verspeiste, gab es hier oben nicht. Also musste er warten, bis er wieder in seinem Reich war.

Nun war guter Rat teuer!

Die Haare von Vilius mussten auch dringend gerettet werden! Das übernahm der Zitteraal, der genau wusste, wo die Haare zu finden waren. Aalschnell sauste er hinunter an den Ort, wo die Haare in den Felsenspalten hängengeblieben waren. Als nächstes überlegten sie alle miteinander, wie sie die abgeschnittenen Haare wieder zusammenfügen konnten.

Der Poseidonis Vilius wurde langsam aber sicher wach. Und wenn er wieder bei Kräften war und bemerkte, dass seine gesamte Haarpracht weg war – dann – rette sich wer kann! Jedoch ohne seine Haare war der Meeresgott vom Mittelmeer kraftlos! Das hatte auch seine guten Seiten! Jedoch vor seinen Zornesausbrüchen mussten sie sich in Sicherheit bringen! Und seine Stimme konnte gewaltig anschwellen und eine immense Sturmwelle verursachen! Und das wollten sie alle vermeiden.

„Ob ich ihm nochmal eine Portion Strom verpasse, was meint ihr dazu?“, fragte der Zitteraal nach seiner Rückkehr, mit den Haaren von Vilius im Fischmaul.

„Wie viel Stromladung hast du denn noch zur Verfügung?“, fragte der Waller.

„Ach, das müsste reichen, damit er eine halbe Sonne noch schläft“, meinte der Zitteraal. „Wir müssten ihn nur in den Schatten ziehen oder ins Wasser legen, damit er von der Sonne nicht austrocknet.“

Der Waldkobold meinte: „Man könnte die Haare wieder miteinander verknüpfen!“

„Mit dem feinen Gespinst der Waldspinne vielleicht. Oder mit den Harzfäden der Lärchen?“, überlegte der Wurzeldrache laut.

„Wie wäre es mit den Seidenspinnerfäden?“, fragte die kleine Bergausternnymphe.

„Oder mit der Flechtkunst des Webervogels?“, fiel dem Wurzeldrachen ein.

„Wohnt hier bei uns überhaupt ein Webervogel??? Ich glaube, der is in Afrika daheim. Oder?“, brummte der Waller.

„Hm?!“, gaben der Waldkobold und der Wurzeldrache gemeinsam von sich.

Jeder am Seeufer hatte eine gute Idee, wie man die Haare des Meeresgottes wieder zusammenflechten oder ankleben konnte.

„Oder vielleicht beides: Anklebend anflechten, das wäre die beste Methode, denn doppelt hält besser!“, sagte der Waldkobold.

„Ja genau! Und wer macht das? Wer ist der beste Weber oder Flechter und wer hat den besten Klebstoff?“, fragte der Wurzeldrache.

Wieder beratschlagten alle in der Runde.

„Ich würde mal sagen, das sind die Bienen mit ihrem Bienenwachs oder die Hummeln oder Wespen!“, erklärte der Waldkobold. „Wespen und Bienen, die kleben ihre Waben an die Felsen oder Bäume. Jedes Tierreich hat seine Spezialisten. Die Spinnen könnten mit ihren Netzen die Haare auch zusammenflechten. Ich glaube, das sieht man am wenigsten. Waaas meint ihr?“

„Und wenn man noch zusätzlich ein paar kleine Perlen miteinflechten könnte, dass sieht sooo schöön aus“, gab die Bergausternnymphe schwärmerisch von sich.

„Was??? Spinnst Du?!!!“, stieß der Waldkobold aufgebracht aus. „Das geht ja überhaupt nicht! Der Meergott mit Perlen im Haar! Was du für Ideen hast – tztztz!“

Die kleine Bergausternnymphe zog sich beleidigt zurück. „Na, dann eben nicht!“, schmollte sie. (Bergaustern sind in der neuen Welt neu entdeckte Austern im Gebirge)

So ging es lange Zeit hin und her. Langsam wurde die Zeit knapp. Die halbe Sonne war bald vorbei und der Vilius regte sich. Es schien, als ob er wieder wach werden wollte.

Nun ging das Gewusel richtig los. Die Waldspinnen begannen die abgeschnitten Haare wieder mit den Haaren am Kopf des Vilius anzuknüpfen. Dazu brauchte es viele, viele Spinnen. Die waren auch sehr schnell gefunden, denn die Natur im Bergwald war noch in Ordnung. Auch die Ameisen kamen dazu und halfen mit, die Haare zusammenzuflechten.

Die Hummeln, Wespen und Bienen stellten mit ihrem Speichel, den sie mit Harz vermischten, einen wunderbaren Klebstoff her. Sie zogen und zupften alle zusammen an den Haaren des Vilius. So viele Ameisen, Hummeln, Wespen und Bienen waren mit dem Haare verkleben beschäftigt, dass man den Kopf des Meeresgottes nicht mehr sah. Immer wieder verpasste der Aal dem Vilius eine leichte Narkose, damit er diese Aktion verschlafen sollte.

Noch bevor die Sonne am Untergehen war, war die „Frisörarbeit“ der kleinen, wuseligen, flinken Bergwaldbewohner fertig.

Nun ging es darum, wie der Poseidonis Vilius wieder in sein Reich zurückkehren konnte. Die beste Möglichkeit war, wieder durch die Abgänge des sizilianisches Bergmassives. Die allerschnellste „Abreise“ wäre jedoch durch den Vulkanschlot des erkalteten kleinsten Vulkans auf der Insel.

Der Krater war voll mit Wasser, wodurch er zu einem klaren türkisfarbenen Bergsee geworden war. Er hatte einen schönen offenen Kanal direkt zum Mittelmeer, schräg nach unten verlaufend. Das wusste die Bergnymphe Orade von ihrer Schwester Tiriade, die dort ihr Reich hatte.
„Nur, wie bekommen wir den Vilius dorthin?“, fragte Orade.

„Der kann auf seinen Beinen dorthin laufen!“, antwortete eine tiefe männliche Stimme.

Alle drehten sich um und suchten den Besitzer dieser männlichen Stimme. Sie sahen vorerst nur riesige Beine, die breitbeinig auf dem Boden standen.
Es stockten ihnen allen der Atem. Wer um Poseidons Willen war das denn?!

„Wer bist du denn?!“, fragte der Wurzeldrache mit gerunzelter Stirn.


Fortsetzung 2. Teil „Der Rübezahl“

Ähnliche Beiträge