Melodie im Wind
Eine besondere Melodie im Wind
Heute ist es wieder soweit.
Seit Nächten spüre ich es – ein Ziehen in der Brust, ein Flüstern in meinen Träumen. Ich wälze mich im Schlaf, mein Atem flach, meine Gedanken kreisen um das, was tief unten ruht – seit ewiger Zeit.
Jetzt ist es da. Deutlich. Der Ruf, der mich erreicht, obwohl kein Mensch ihn hört – nur ich.
Das Dunkle im See regt sich. Die Stille ist zu laut. Ich kann nicht anders – ich muss gehen.
Eiskristalle tanzen umher, glitzern im silbernen Mondlicht und der Wind schneidet scharf durch die finstere Nacht. Still unter einer dicken Eisschicht verborgen liegt er da – der See – in dunkler Tiefe. Ich stehe am Ufer, spüre die Kälte in meinen Knochen. Doch etwas anderes lässt mich frösteln – eine Melodie, kaum hörbar flüstert sie im Wind.
Es ist nicht irgendein Lied. Es ist eine Warnung.
Mein Herz schlägt schneller. Ich kenne diese Stimmen, dieses leise Raunen, das mit dem Pfeifen des Windes durch die Kälte dringt. Etwas tief unten im See regt sich … Die Wasserseele träumt. Tief unten, im schwarzen Schlund des Sees … oder ist sie erwacht? Oh nein … das darf nicht sein. Meine Großmutter hat mir oft davon erzählt – von der alten Macht, die da unten ruht, aber niemals wirklich schläft.
Ich ziehe den dicken Umhang enger um mich herum und setze einen Fuß aufs Eis. Auch wenn es leise knirscht … es hält. Ein Schritt. Noch einer. Die Nacht hüllt mich in ihren stillen, kalten Schleier. Unter meinen Füßen werfen sich Schatten zuckend hin und her, als würde die Seele des Sees träumen – oder eben aufwachen.
Mein Atem ist flach. Ich spüre die Kälte nicht mehr, nur die Angst, die in meiner Brust flattert wie ein scheues Tier. Doch ich darf ihr nicht nachgeben. Ich darf die Wasserseele beruhigen … ich weiß es genau … es ist meine Aufgabe.
Meine Stimme erhebt sich leise, mischt sich mit dem Wind. Eine Melodie formt sich, zart wie ein schmelzendes Schneekristall, tief wie der Ozean. Ich singe. Singe von der Stille, von der Tiefe, von der Ruhe, die wir teilen dürfen. Meine Großmutter hat mir einst die Kraft der Worte gelehrt – wie sie beruhigen … wie eine kühle Hand auf fiebriger Stirn … wie sie Hoffnung weben – wie warme Wolle an einem kalten Winterabend.
Das Eis unter mir bebt. Der Schatten wird größer. Das Dunkle darunter atmet laut und schwer. Ich schließe die Augen und singe weiter. Sanft. Bestimmt und immerfort …
Dann – Stille.
Ein letzter dunkler Wirbel, dann zieht sich die Wasserseele zurück, sinkt tiefer und tiefer, bis sie sich wieder in ihrem Schlummer verliert. Das Eis erstarrt. Der Wind verstummt. Nur mein Herz hämmert noch spürbar laut.
Ich stehe da, spüre, wie die Spannung aus meinen Schultern weicht. Es ist vorbei.
Als ich zurück ins Dorf gehe, ahnt niemand, was gerade geschehen ist. Keiner ahnt, dass die Dunkelheit des Sees fast erwacht wäre. Keiner weiß, dass ein Lied sie gerettet hat. Aber das ist in Ordnung.
Ich weiß es. Und meine feinen Begleiter sind da.