Quelle des Lichts

Die Quelle des Lichts
In einem Land des Zaubers, vom Wispern der ungebändigten Natur durchwoben und vom Meer umgeben, existiert keine Zeit. Die Geschöpfe, die dort leben, leben nach ihrem eigenen Rhythmus. Es sind wunderschöne Elfen, verschmitzte Kobolde, ätherische Sylphen der Lüfte, und stolze Meerfrauen und Wassermänner.

Roman aus der irischen Anderswelt
Irland im 16. Jahrhundert …
Gabhan, dem endlich, seit er auf dem Rücken seines edlen Hengstes Munjo saß, die Schwernis abfiel, stieß seinem Pferd die Fersen in die muskulösen Flanken. Als hätte Munjo längst darauf gewartet, verfiel das prachtvolle Tier in einen schnellen Schritt und schließlich in Galopp. Wie ein dunkel glänzender Luftstrom streckte sich sein Körper und flog über das Erdreich. Mit einem leichten Vorsprung hielt sich der Elfenprinz an der Spitze des kleinen Reitertrupps, hütete sich aber davor, seine Freunde zu unterschätzen. Jeder von ihnen war ein hervorragender Reiter, allen voran Floriel, der bei ihren Wettritten die meisten Siege davontrug.
Sie hatten den Wald von Screebin erreicht, als plötzlich tatsächlich dieses Fliegengewicht Floriel neben ihm war. Gabhan konnte, wie so oft, nur darüber staunen, mit welcher Lässigkeit sich sein Freund bei vollem Galopp auf dem Pferd hielt. Floriel grinste herausfordernd zu ihm herüber, erlaubte sich sogar eine saloppe Geste. Gabhan machte sich auf Munjo leichter, doch es war Floriel, der vor allen anderen das Ziel erreichte und auf die weite Lichtung sprengte, über der der Himmel zu sehen war. Nach dem Regen, der vor kurzem niedergegangen war, war er von einem makellosen Eisblau. Und wolkenlos. Die Luft war erfüllt vom Rauschen des Wasserfalls, der von einem hohen Felsen über steinerne, moosbewachsene Kaskaden in einen kleinen See herabstürzte.
Das Wasser war glasklar und von einem Türkis, wie es die Augenfarbe der Elfen war, die dem Volk der Alcedonier angehörten und deren Gewandfiebeln durch die Abbildung prachtvoller Eisvögel geziert waren. Was nicht wunderte, denn es war eben jener durch zahlreiche Flüsse und Seen durchzogene Landstrich in der irischen Anderswelt, in dem die meisten Eisvögel lebten. Doch auch sonst bot Alcedonia einen bezaubernden Anblick durch seine reichen Wälder, sanfte Hügellandschaften und lieblichen Auen. Einem Menschen mochte es vorkommen, als reiche das Land der Alcedonier von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang.
Alcedonia war das Reich von Naturgeschöpfen inmitten von Reichen anderer Naturgeschöpfe. Allesamt gehörten sie zur Anderswelt, einer für den Menschen nicht sichtbaren, mystischen Welt, die als sphärischer Lichthauch neben der Welt der Menschen existiert – einer Welt, verborgen hinter herbstlichem Nebel, wenn erstes Morgenlicht ihn sanft zerfasert.
Es heißt, es gäbe zaubrige Tage und Nächte, an denen Menschen der Übergang in die Anderswelt möglich ist, aber auch Geschöpfe dieser Welt in die Welt der Menschen gelangen können. Mancher Mensch tritt zu solch bedeutsamen Zeiten in vollem Bewusstsein in den Nebel oder magischen Lichtschein, der sich vor ihm auftut, andere wieder stolpern buchstäblich in das Reich der Feen, Elfen, Kobolde, Geister … und Engel.
An den Ufern des Sees, den der Reitertrupp um Prinz Gabhan erreichte, fanden sich stets Bewohner aus dem Wald oder den nahen, ja sogar ferneren Landstrichen ein. Grund dafür war, dass ein gewitzter Leprechaun die Höhle unter dem Felsplateau genutzt hatte, um daraus eine Schenke zu machen. In den Tiefen dieser Höhle floss ein Teil des Quellwassers in ein natürliches steinernes Becken, von wo aus der gewitzte Humpf Getränke braute, deren Namen entweder dem Geschmack oder der Konsistenz der unterschiedlich farbigen Flüssigkeiten entsprachen, oder beidem. Oder der Wirkung, die die Gebräue verursachten. So fanden sich auf der großen Holztafel wunderliche Namen wie Klebriger Kümmerling oder Dahockschdinieder.
Dylan, ein Waliser, der sein Elfenvolk verlassen hatte und nach Alcedonia gekommen war, (weshalb er Wales verlassen hatte, darüber schwieg er eisern) war groß wie ein Bär, breitschultrig wie ein solcher, und, wenn man ihn genügend reizte, ebenso wild. Im Grunde seines Herzens war Dylan jedoch gutmütig. Er war lebenserfahren genug, um Gefahren oder jedenfalls widrige Umstände, gut einschätzen zu können. Doch manches Mal wischte er alle Bedenken vom Tisch und folgte dem draufgängerischen Blut, das in ihm hoch wallte.
Dylan war der einzige der Freunde des Prinzen, der das gesamte Getränkeangebot Humpfs, des Einfallsreichen, bislang genossen hatte. Genossen … na ja … beim Klebrigen Kümmerling und dem Dahockschdinieder hatte Dylan gewisse Auswirkungen erst auf dem Ritt zurück zur Burg heraneilen spüren. Beim als Kracher angepriesenen Grmpffchyxchx, bei dem Dylan Mühe hatte, den Namen überhaupt aussprechen zu können – Humpf hatte ihm schnarrend geantwortet, es würde reichen, wenn er ihn trinken würde, er müsse ihn nicht aussprechen können -, hatte Dylan, kaum dass er die ersten Schlucke davon getan hatte, seine Freunde äußerst eilig in Richtung des nahen Waldes verlassen. Nichtsdestotrotz hatte er von Humpf ein kleines Fass des in seiner raschen Wirkung außergewöhnlichen Getränks erstanden. Für außergewöhnliche Umstände, wie er seinen Freunden erklärt hatte.
Alle anderen der Männer um Gabhan, einschließlich diesem selbst, hielten sich an einen einzigen Tropfen, der ihnen aus Humpfs Angebot als genießbar erschien: den Tautropfenwein. Humpf hatte ihnen mürrisch verraten – Leprechauns artikulierten sich, selbst wenn sie freundlich gestimmt waren, in knarzenden Lauten, was sich anhörte, als würde eine Tür in rostigen Angeln bewegt werden –, dass er, noch ehe die Sonne aufging und ein erster Strahl ihn berühren konnte, den ersten Septembertau dafür sammelte. Ausschließlich dieses Getränk servierte er seinen Gästen in gläsernen Humpen, um ihnen die Reinheit des erlesenen Weins – Humpf befolgte penibel das oberste Reinheitsgebot! – unter Beweis stellen zu können.
All seine Kreationen – soweit ließ sich Humpf zur Preisgabe seiner Rezepturen herab – waren aus den Pflanzen und Kräutern, Flechten und Moosen, die er in unmittelbarer Nähe des Wasserfalls sammelte. Es gab noch eine geheimnisvolle Zutat, die Humpf jeder Mixtur zuführte, doch über diese wahrte er striktes Stillschweigen. Während der Tautropfenwein wie reinstes Wasser silbern funkelte, schwappte der Klebrige Kümmerling dicklich lehmbraun im Krug. Der Dahockschdinieder wieder schimmerte giftgrün, während die Blasen, die an der Oberfläche aufstiegen, fliegenpilzrot zerplatzten.
„Fünf Humpen randvoll vom edlen Tautropfenwein, werter Herr Humpf“, donnerte Dylan über den Platz, während er als Erster die einzige noch freie Tafel vor der Schenke erreichte und sich krachend auf eine der beiden Bänke fallen ließ. An anderen der schweren Tische hatten sich Farbenkleckser-Zwerge aus dem Regenbogenland niedergelassen, und Wetterhexen aus dem Blitz-Donner-Land, die augenscheinlich den Dahockschdinieder in ihren Humpen hatten, denn nach jedem Schluck kräuselten sich fliegenpilzrote Rauchkringel unter ihren Spitzhüten hervor.
Aus der Schenke stieß ein hohes, krächzendes „Komme gleiiiiiiiiiich!“, was sich in der Tonlage anhörte, als wäre Humpf ein schwerer Gegenstand auf den Fuß gefallen.
Eine meckernde Lachsalve der Farbenkleckser-Zwerge am Nebentisch später brachte Meister Humpf in gläsernen Gefäßen den Tautropfenwein und donnerte ihn vor seinen Gästen auf den Tisch. Funkelnde Flüssigkeit schwappte über den Rand. „Wohl sein, die Herren“, knurrte Humpf und schlurfte wieder davon.
Dylan hob seinen Humpen und prostete den Freunden zu, die es ihm gleichtaten. Alle tranken sie durstig und mit Genuss. Als Dylan den Krug wieder absetzte, war er leer. Zufrieden wischte er sich mit dem Handrücken über den Mund.
Gabhan lenkte den Blick zum Wasserfall, worauf sich seine Gedanken augenblicklich mit dem herabstürzenden weißen Schleier verwoben. Der junge Prinz dachte an die Bewohner Alcedonias, die in Frieden und Harmonie miteinander lebten. Selbst streitlustige Leprechauns überschritten in ihren Narreteien nicht jene Grenze, die aus Streichen üble Missetaten machten. Der Gedanke an die Schwernis, die bereits einige Königreiche in der Naturwelt heimsuchte, fiel erneut wie ein drückender Mantel über Gabhan. Erste Elfen hatten bereits an Zauber verloren, Kobolde ihren schlitzohrigen Humor. Tiere blieben wie verängstigtes Wild in den schützenden Hainen. Sattgrüne Wälder, farbenreiche Blumenwiesen und Hügel unter einem Meer von Kräutern verloren ihre Leuchtkraft, als würde das innere Licht darin verlöschen. Mehr noch als die Gefahr, die Alcedonia drohte, wühlte Gabhan allerdings auf, was ihm vor wenigen Stunden offenbart worden war.
Gabhan versank in der Erinnerung daran …
Gabhan betrat den prachtvollen Thronsaal der Burg, in den ihn sein Vater, der König, zu einer Unterredung hatte rufen lassen. Die Pracht bestand nicht in einer prunkvollen Ausgestaltung der Halle, die der Herrlichkeit dessen, was sich darin befand, nie und nimmer hätte gerecht werden können, sondern in einem einzigen Juwel: dem Thron!
Des Königs Thron bestand aus den mächtigen Wurzeln einer Eiche, die immer mächtiger wurden und sich wie Arme über den steinernen Boden der Halle streckten, denn der Baumriese lebte und durchstieß mit seinen enormen Ästen den südlichen Teil der Burg, um seine Jahrtausende alte Krone weit über den starken Zinnen auszubreiten.
Als Gabhan die Halle durchmaß, kam ihm sein Vater mit forschen Schritten entgegen. König Cennfáeled, der ein smaragdgrün-goldenes Wams und grüne Hosen trug, war eine beeindruckende Erscheinung. Hochgewachsen, wie es die Elfen des Volkes der Alcedonier waren, umgab ihn ein natürlicher Stolz. Sein Antlitz trug ebenmäßige wie gleichermaßen entschlossene Züge. In den türkisfarbenen Augen zeigten sich goldene Einschlüsse, wie sie in den Augen von Elfen in fortgeschrittenem Alter zu finden waren – oder bei Elfen von besonderer Weisheit. Cennfáeleds schulterlanges, weißes Haar schimmerte im Licht der Sonne, die durch die hohen, offenstehenden Fenster fiel, kupferfarben.
„Die Situation verschärft sich, Gabhan!“, begrüßte der König seinen Sohn. „Farbenkleckser-Zwerge, die vom Meer kommen und unser Land auf dem Weg in ihre Heimat durchreisen, brachten heute Morgen Kunde, dass manche Regionen im Küstenreich Königin Dáirines und des benachbarten Reichs König Brógans von der Schwernis befallen sind.“
„Damit sind bereits sieben Reiche unserer Welt von einer Gefahr bedroht, deren Ursache wir immer noch nicht kennen, Vater!“, stieß Gabhan erregt aus. „Es ist kaum anzunehmen, dass diese Schwernis, die die Gemüter der Bewohner verdunkelt und die Farben der Natur verblassen lässt, von selbst stockt. Was geschieht, wenn auch die restlichen Reiche davon befallen werden? Versinken die Naturreiche Irlands mit all ihren Geschöpfen dann in diesem Schatten?!“
König Cennfáeled machte eine entschlossene Geste. „Soweit wird es nicht kommen, Gabhan! Unser Bewusstsein schwingt zu hoch, als dass wir in den Schatten sinken könnten!“
„Unser Bewusstsein kann von außerhalb beeinflusst werden, Vater!“, hielt Gabhan seinem Vater hitzig entgegen. „Alles, was unserer Welt widerfährt, hat Einfluss auf unsere Schwingung!“
Der König antwortete nicht vorschnell. Schweigend musterte er seinen Sohn. Ihm war dabei, als würde er in das Antlitz des jungen Mannes blicken, der er einst gewesen war. Selbst in dem kurzen, weizenblonden Haar, das immerfort ein wenig struppig wirkte, als wäre eine ruhelose Hand durchgefahren. Die Züge von Wachheit und Herausforderung in dem gut geschnittenen Gesicht passten dazu, und Lebenshunger, der aus den klaren Augen blitzte.
„Du hast recht, Gabhan, es gibt Wesen, die die Macht haben, in unsere Welt einzudringen und ihre Bewohner und all das, was wir als lebenswert erachten, zu gefährden. Sogar zu vernichten!“ Cennfáeleds Stimme war rau geworden. „Menschen, dunkle Elfen und dämonische Geschöpfe haben die Kraft dazu, selbst wenn sie nicht in unsere Welt eindringen! Unsere Natur ist verletzlich, unsere Tiere sind es. Wir Naturwesen sind es. Alles, was außerhalb der Anderswelt, wie Menschen unsere Welt bezeichnen, gelebt wird, hat Einfluss auf unser Leben. Verletzungen geschehen, wenn unsere Würde missachtet wird. Wenn keine Liebe und kein Respekt vorhanden sind gegenüber den Tieren, gegenüber den Pflanzen, den Hütern der Pflanzen und den mächtigen Baumweisen, den Leben spendenden Wasserläufen, den heiligen Hainen. Und gegenüber uns Elfen, Feen, Kobolden und allen anderen Bewohnern der Naturreiche.“
Die Welt der Naturreiche und darin lebenden unterschiedlichen Geschöpfe gab es schon immer. Mochten die Menschen von Begebenheiten in frühen Zeitaltern sprechen, wenn sie sich Sagen und Legenden erzählten oder von Geschehnissen wussten, die von den Stammvätern in den Familien überliefert worden waren. Die Menschen ordneten ein in Zeiten der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Genaugenommen kannte die Ewigkeit jedoch keine Zeit.
König Cennfáeled lächelte leise zur Überzeugung der Menschen, die Krone der Schöpfung zu sein. Er lächelte nicht aus Herabwürdigung, sondern in dem Wissen, das alles, was Leben in sich barg, zusammengehörte. Er musste kein Adler sein, um zu sehen, dass sie alle zusammengehörten. Der Geringste wie der scheinbar Mächtigste. Der Mensch war den Naturwesen, den Tieren und den Pflanzen gleichgestellt. Was auch immer in einem Universum existierte, in allen Universen, gehörte zusammen. Das All oder Alles, die Universen der Unendlichkeit, waren ein Gesamtes.
Cennfáeled stützte sich mit einer Hand auf eine der mächtigen Baumwurzeln, die einen Teil des Throns der Elfenkönige von Alcedonia bildete. Gedankenverloren wanderte sein Blick den riesigen Stamm der Eiche hinauf in deren grüne Krone. Auch er, Cennfáeled, trug eine Krone, Insignium einer Macht, die ihm und seiner Familie nach einer außerordentlichen Befähigung gegeben war und mit den Gesetzen der Menschen, die einen König durch Erbfolge, oftmals aber auch aus politischem Kalkül, bestimmten, nichts gemein hatte. Es war eine faktische Gegebenheit, wie Ebbe und Flut einer Regelmäßigkeit unterworfen waren, die kein Herrscher den Elementen des Wassers und der Erde je hätte aufzwingen können. Es war auf natürliche Weise so, wie das Universum, das All, eine natürliche Ordnung kannte. Eine Ordnung, die das Alles hingebungsvoll einfasste in Farben und Formen, Frequenzen und Resonanzen, durchwoben von einem ewiglichen, liebevollen Licht.
Cennfáeled war der Elfenkönig Alcedonias, wie Bronwen, ein Kobold, ein erstklassiger Pferdewächter war, der die Pferde Alcedonias – im gesamten Naturreich gab es übrigens nur freilebende Pferde – versorgte, wenn sie sich die Ehre gaben, sich den Elfen oder anderen Naturwesen zuzugesellen. Bronwen liebte Pferde, liebte seine Gabe, mit den edlen Tieren auf energetische Weise kommunizieren zu können. In der natürlichen Ordnung, in der Bronwen seine Gabe lebte, was für ihn höchste Erfüllung war, stellte er sie freudig anderen zur Verfügung, ob den Pferden oder der königlichen Familie. Hätten beide, König und Pferdewächter, das Verlangen, ihre Stellungen zu tauschen, würde niemand im ganzen Land Alcedonia dagegensprechen. Außer Cennfáeled und Bronwen selbst, denn sie machten, was sie liebten und was das Ihre war. Und das Ihre war ihre Gabe, die zu leben ihre Aufgabe war. In allen Leben.
In ihren unterschiedlichen Talenten waren Cennfáeled wie Bronwen vor zeitloser Zeit geschult und ermächtigt worden: Ein würdiger Herrscher über ein stolzes Volk zu sein, und ein feinsinniger Pferdewächter, der mit den Pferden in deren Bewusstseinsebene kommunizierte, um ihnen zur Verfügung zu stellen, was sie benötigten oder wünschten. So war es auch bei allen anderen Bewohnern des Naturreichs, die ihre verschiedenen Talente sich selbst zu Freude ausübten, und anderen zu deren Wohlbefinden schenkten.
„Was wirst du tun, Vater?“
Die Stimme seines Sohnes riss den König aus seinen Überlegungen. Cennfáeled atmete hörbar aus, ehe er den Blick auf Gabhan richtete. „Zum nächsten Neumond werden sich die Herrscher der Naturreiche Éirinns auf Cnoc Uisnigh einfinden, um gemeinsam zu beraten, wie der Schwernis zu begegnen ist. In der Zeit bis dahin entsendet jedes Reich Späher bis in den hintersten Winkel des Landes, um aufzuspüren, weshalb die Natur und die Bewohner immer mehr das innere Licht verlieren. Unser aller Hoffnung liegt darin, dass wenigstens einer der Könige oder Königinnen Auskunft über die Ursache geben kann.“
Des Königs Blick auf seinen Sohn intensivierte sich. „Mein Sohn, du wirst erwarten, dass ich dich und deine Freunde in dieser Mission für unser Land entsende, doch ich habe einen anderen Auftrag für dich! Einen, der nicht weniger von Bedeutung ist.“
Höchst überrascht steigerte sich in Gabhan die Anspannung. Was konnte bedeutungsvoller sein, als die Ursache für den sich ausbreitenden Schatten herauszufinden?!, durchjagte es ihn.
In der Miene seines Vaters lag Zögern, lag eine Unsicherheit, die Gabhan so an diesem nicht kannte. „Gabhan, was ich dir zu sagen habe, ist sehr wichtig! Ich hatte vor, es dir zu einem anderen Zeitpunkt anzuvertrauen, doch es ist etwas geschehen, das keinen Aufschub duldet.“ Cennfáeled schob seine Hand unter das prachtvolle Wams, um sie kurz darauf wieder hervorzuziehen und seinem Sohn hinzustrecken. Zwischen den sich öffnenden Fingern funkelte eine goldene Fibel in der Form einer Vogelschwinge. Darin saßen kostbare Steine von durchscheinendem Türkis und Aquamarin. Solcherart Gewandnadeln trugen ausschließlich Mitglieder der königlichen Familie, von denen es gegenwärtig nur zwei gab, nämlich König Cennfáeled und seinen Sohn, Prinz Gabhan. Geschwister hatte Gabhan nicht, und seine Mutter Ayirhael, die als Königin an der Seite Cennfáeleds über Alcedonia geherrscht hatte, war bereits in das Licht gegangen, in das die feingewobenen Seelen der Elfen Eingang fanden, wenn sich die zarten Körper auflösten.
Dem Blick auf das wundervolle Schmuckstück folgte Gabhans Blick auf die Brust seines Vaters, an der am smaragdgrünen Wams die königliche Fibel von selbem Aussehen schimmerte. Ihm selbst glitt die Hand wie selbstverständlich an die Stelle, an der seine Fibel den leichten Umhang vor der Brust zusammenhielt.
„Wem gehört diese Fibel, Vater?“, fragte Gabhan aufgeregt.
Cennfáeleds Wangenknochen traten unter der Anspannung, unter der er stand, erkennbar hervor. „Deinem Halbbruder!“
„Was sagst du da, Vater?!“, stieß Gabhan fassungslos aus.
Der König blickte seinem Sohn ruhig in die Augen. „Höre, Gabhan, nachdem deine Mutter von uns gegangen war, gab es lange keine Frau mehr in meinem Leben. Erst bei einem Besuch im Reich Klong begegnete ich erneut einer Frau, die mein Herz berührte. Auch ihr war ich nicht gleichgültig. Bei meinen gelegentlichen Besuchen in Klong lenkte ich mein Pferd hin zu dem Haus am Meer, in dem sie lebte.“ Cennfáeled schwieg für einen Moment, in dem ein sanftes Leuchten in seine Augen spielte. „Es war vor der Zeit … Menschen würden sagen … 21 Jahre, dass Áine mir sagte, dass sie unser Kind unter dem Herzen trägt.“
Gabhan pochte seines wild in der Brust. Er war verwirrt und enttäuscht. Auch zornig, da sein Vater ihm dieses Kapitel in seinem Leben bislang verschwiegen hatte. Gleichzeitig war da etwas in ihm, das aufjubeln wollte. Irgendwo in der Welt da draußen hatte er einen Bruder!
„Für diesen … Jungen ließ ich diese Gewandnadel fertigen“, fuhr Cennfáeled fort. „Wenn es an der Zeit war, sollte er sie durch Áines Hand als Zeugnis seiner königlichen Herkunft erhalten.“
„Warum hast du Áine nicht mit an den Hof gebracht, Vater?“
Cennfáeled schob das Kinn ein wenig vor, wie er es stets tat, wenn ein Handeln im Nachhinein Zweifel oder Schuldgefühle in ihm auslöste. „Das stand in meiner Absicht, doch sie wollte ihre Heimat und ihr Volk nicht verlassen.“
„Ihr Volk?“, fragte Gabhan erstaunt.
Um Cennfáeleds Lippen spielte ein eigener Zug. „Áine war eine Frau aus dem Volk der Menschen!“
Gabhan glaubte, unter seinen Füßen würde sich der Boden auftun. Ein Mensch!, schoss es ihm ungläubig durch den Kopf. Eine Frau aus dem Volk jener Wesen, die Seinesgleichen und jede andere Spezies aus der Anderswelt als ein Phantasiegeschöpf ansah!
„Sohn, ich sehe deinen Zweifel, doch Áine sprach mit Respekt von unserer Welt. Sie war ein Mensch, der mit allen Bewohnern der Naturreiche und mit den Tieren und den Pflanzen auf Augenhöhe lebte.“
Dass sich ein Mensch und ein Elfenwesen fanden, war nicht ungewöhnlich. Wenngleich es eher selten vorkam, dass sich ein Elfenkönig eine menschliche Frau erwählte. In der Tat wurde in Büchern eingehend über Begegnungen von Menschen und Elfen und anderen Naturwesen berichtet, diese Begebenheiten durch die Verfasser allerdings als Sagen abgetan oder als Märchen. Wobei es freilich auch Verfasser gab, denen das Wissen um die Wahrheit die „Feder“ führte. Die „menschlichen“ Bewohner Irlands wussten sehr wohl um die Existenz der vielfältigen Bewohner der Naturreiche. Viele von ihnen lebten mit den Wesen der Anderswelt gemeinsam in den Ansiedlungen und den einsamen Cottages, bewohnten als Nachbarn grüne Hügel und windumtoste Gegenden an der Küste. Zog ein Sturm herauf, sahen die Menschen zu, rasch ins Haus zu kommen und die Tür fest zu verschließen, während Luftsylphen sich bereit machten, sich in den wirbelnden Lüften einem wilden Tanz hinzugeben.
Jene Menschen, die sich nicht dagegen verschlossen, dass es neben der greifbaren Welt auch eine feinstoffliche gab, achteten ihre „besonderen“ Nachbarn, waren von ihrem Zauber fasziniert, hielten sie für gewitzt, für schlitzohrig … oder fürchteten sie. Es gab stolze Elfen des uralten Volkes der Sidhe, die auf dem Benbulben bei Sligo lebten und denen ein einsamer Wanderer beim Aufstieg auf den Berg begegnen konnte. Erwies der Wanderer ihnen gegenüber Freundlichkeit, gab der Elfenmann diese wieder, wenn nicht, konnte dem Wanderer auf dem weiteren Weg ein Missgeschick widerfahren. Es gab aber auch Wesen, die den Menschen von vorneherein arglistig begegneten oder sie gar ins Verderben stürzten.
„Du hast nicht versucht, Áine umzustimmen, mit in unser Reich zu kommen, Vater?“
Cennfáeleds Nicken war kaum wahrnehmbar. „Áine war nicht nur schön, sie war auch eigensinnig. Sie hatte ihren Willen!“
„Sie wollte in der Welt der Menschen bleiben?“
„Ja. Sie war glücklich dort, wo sie lebte. In einem kleinen Cottage über einem Fischerort am Meer. Für eine Frau aus dem Volk der Menschen, insbesondere, weil sie ohne Mann an ihrer Seite lebte, führte sie ein vergleichsweise freies Leben. Und ein einfaches Leben, was ihr genügte.“ Ein Schatten legte sich über Cennfáeleds Gesicht. Er machte eine leise Geste, als wünschte er, die Zeit anhalten zu können. Eher noch zurückdrehen. Die Zeit, die es für Naturgeschöpfe nicht gab. „Als Áine kurz vor der Niederkunft mit unserem Kind stehen musste, machte ich mich auf den Weg zu ihr. Im Gewand eines einfachen Mannes trat ich spät nachts in die Welt der Menschen.“ Cennfáeleds Lippen pressten sich hart aufeinander. „Ich kam zu spät. Áine war nicht mehr da. Das Haus stand verlassen.“
Gabhan schlug das Herz, als wollte es ihm die Brust sprengen.
„Am Morgen ging ich ins Dorf, trat als entfernt lebender Vetter Áines auf. Ich stellte Fragen, und bekam Antworten!“ Das Antlitz des Königs verfinsterte sich auf eine Weise, die Gabhan an seinem Vater selten erblickt hatte. „Áine hatte ein Kind zur Welt gebracht, einen Jungen. Nicht lange danach erfuhren die Menschen im Dorf davon. Da niemand von ihnen von Áines Zustand gewusst hatte und sie niemals mit einem Mann gesehen worden war, brachte es die Leute gegen sie auf.“ Cennfáeleds Finger schlossen sich langsam zur Faust. „Der Umstand, dass das Kind missgestaltet war, versetzte die Leute in Angst und Schrecken.“ Cennfáeleds Augen waren dunkel vor Zorn geworden. „Áine und ihr Kind erschienen den Menschen wie von einem bösen Zauber belegt. Sie legten beide in ein Fischerboot und brachten es aufs Meer hinaus.“
„Sie überließen die wehrlose Frau und das unschuldige Kind ihrem Schicksal?!“, stieß Gabhan bestürzt aus.
Cennfáeled stand wie erstarrt. Noch immer hielt er die Hand zur Faust geballt. „In diesem Augenblick hätte ich das Verderben über das ganze Dorf bringen können! Es fehlte nicht viel, doch damit hätte ich mich Menschen gemein gemacht, die in ihrer Furcht wie toll werden. Die unbarmherzig handeln, wenn sie jeglichen Verstandes und Herzens beraubt sind!“ Cennfáeleds Stimme war wie Eis. „Wenige Stunden, nachdem Áine und unser Kind aufs Meer gebracht worden waren, zog ein Unwetter herauf. Der Sturm soll so gewaltig gewesen sein, dass es von zahlreichen Häusern im Dorf die Dächer abgedeckt hätte.“
Auch Gabhan stand nun wie erstarrt. Unmöglich konnten die Geliebte seines Vaters und sein Halbbruder in der aufgepeitschten See überlebt haben! Bitterkeit und tiefe Traurigkeit breiteten sich in ihm aus.
„Die Gewandnadel hatte sich damals nicht gefunden“, sagte Cennfáeled rau. „Nicht im Haus und nicht in dessen Umgebung.“
„Jemand aus dem Dorf hat sich ihrer bemächtigt!“, war sich Gabhan sicher.
„Zweifellos!“ Cennfáeled machte unruhige Schritte in der Halle. „Bis zum heutigen Morgen blieb sie verschwunden, bis eine Abordnung von Reisenden, die von der Küste kam, erbat, zu mir vorgelassen zu werden. Es waren Farbenkleckser-Zwerge auf der Durchreise durch Alcedonia. Sie berichteten mir von der Schwernis in manchen Gebieten, durch die sie gekommen waren. Ihr Anführer gab mir die Fibel und bekräftigte, sie auf einer Waldlichtung in Klong gefunden zu haben. Halb eingegraben hätte sie in der vom Regen durchtränkten Erde gelegen. Nur durch ihr Funkeln wäre man auf sie aufmerksam geworden. Einige der Zwerge vermuteten nach dem Aussehen der Gewandnadel, dass sie einem Mitglied der königlichen Familie Alcedonias gehören musste.“
„Fand sich sonst noch etwas auf der Waldlichtung?“, fragte Gabhan.
„Überall verstreut lagen Habseligkeiten eines Menschen herum, wie er sie für den Alltag verwendet. Dazu ein bodenlanger, einfach gewobener Mantel, der blutdurchtränkt war.“
„Es hat einen Kampf gegeben!“, war sich Gabhan sicher.
„Alles deutete darauf hin. Es fand sich allerdings kein Verletzter oder Toter. Auch keine Waffe oder ein zurückgelassenes Pferd.“
Gabhans Gesicht glühte wie fiebrig: „So haben jene, die am Kampf beteiligt gewesen waren, die Gewandnadel übersehen, als wäre es den reisenden Zwergen bestimmt gewesen, sie zu finden und zu uns zu bringen, Vater!“
Die Blicke Gabhans und seines Vaters trafen sich, verschmolzen ineinander. „Vielleicht haben Áine und … mein Bruder überlebt?!“
Cennfáeled hatte denselben Gedanken gehabt, als ihm die Zwerge am Morgen die Fibel überreicht hatten. Als er sie erkannt hatte, hatte er sich wie vom Donnerschlag getroffen gefühlt. Wenn Áine und der Junge noch lebten, wenn … Er hatte nicht gewagt, all seine Hoffnung in diesen Gedanken zu legen. „Weshalb erhielt ich nie Nachricht, wenn es so wäre, Gabhan?!“, fragte er, wobei er den Blick an seinem Sohn vorbei durch eines der großen Fenster richtete, hinaus in die grüne Welt, die sich dahinter auftat. Eine Welt voller Zauber und Schönheit, von uralten Baumriesen und einem glitzernden Bachlauf. Einer Welt von einer Vielzahl an Vögeln, die mit ihren glasklaren Stimmen die Luft zerschnitten. „Weshalb nicht?“, flüsterte Cennfáeled.
„Ich werde meinen Bruder und Áine finden, sofern sie noch am Leben sind! Das gelobe ich dir, Vater!“ Gabhan neigte ehrerbietig das Haupt, während er die Hand auf der Brust hielt.
Plötzlich stieß Cennfáeled ein Ächzen aus. Ungläubiges Staunen weitete seine Augen. „Gabhan … Gabhan … ich spüre … Abrupt stockte er, während er wie fiebernd auf die Gewandnadel starrte, die zwischen seinen Fingern warm geworden war und deren Steine auf einmal wie lebendig funkelten. „Erstmals spüre ich … eine Energie in ihr!“
Auch Gabhan starrte fasziniert auf die Fibel, erkannte, was sein Vater meinte. Entschlossen straffte er den Rücken. „Wir werden erst zurückkehren, wenn wir um das Schicksal von Áine und meinem Bruder wissen, Vater!“ Er zögerte einen kurzen Moment. „Doch ich werde meinen Freunden gegenüber kein Geheimnis um das Ziel unserer Reise machen!“
„Das sollst du auch nicht, Gabhan. Ich habe Áine geliebt und unser Kind. Ich liebe sie noch immer! Áine und dein Bruder hätten das Recht gehabt, am königlichen Hof Alcedonias zu leben.“ Cennfáeled nickte seinem Sohn zu, ehe er sich abwandte und durch die Halle zu einer der offenstehenden Türen schritt, die ins Freie führten.
„Ich werde sie finden, Vater!“, murmelte Gabhan, während er mit brennenden Blicken der hohen Gestalt seines Vaters folgte.
Gabhan, im Kreis seiner Freunde und an der schweren Tafel vor der Schenke Meister Humpfs, kehrte mit seinen Gedanken in die Gegenwart zurück. Wie benommen blinzelte er.
Die Freunde, denen Gabhans Geistesabwesenheit nicht verborgen geblieben war, hingen mit neugierigen Blicken an ihm. Floriel versetzte ihm einen Stoß gegen den Ellbogen. „Hast du irgendetwas von dem gehört, was ich gerade gesagt habe, Prinz?“
„Wenn nicht, hast du nichts versäumt, Gabhan“, brummte Dylan, der sich längst einen weiteren Krug mit Tautropfenwein von Meister Humpf hatte bringen lassen.
Elmund, in der bereits lange bestehenden Freundschaft mit Gabhan, legte ihm die Hand auf den Unterarm. Elmund Morgenstern, königlicher Berater des Vaters, war auch dem Prinzen ein weiser Berater. Obgleich nur wenige Jahrzehnte älter als Gabhan, war sein Haar, das er kurz trug, bereits silbergrau. In seinen Augen zeigten sich winzige Einschlüsse von Gold. Elmunds Stimme war voll, der Klang väterlich. Jedenfalls in dem Moment, in dem sich auch unverhohlen Besorgnis in seinen Blick legte: „Was wird dein Vater tun, Gabhan?“
Elmund stellte die Frage, die jedem von Gabhans Freunden auf der Zunge brannte, seit der Prinz nach der Unterredung mit seinem Vater in tiefem Ernst zu ihnen zurückgekehrt war. Mitten unter die weidenden Pferde auf einem der grünen Hügel, die die königliche Burg umgaben.
Gabhan stieß einen langen Atemstoß aus, ehe er antwortete: „Mein Vater entsendet die besten unserer Reiter und Späher in alle Winkel des Landes, um die Ursache für die Schwernis aufzuspüren.“
Elmund, der herauszuhören glaubte, dass nicht des Königs Sohn und seine engsten Freunde damit gemeint waren, kniff die Augen zusammen. „Der König entsendet andere Männer als uns?!“
„Ja!“
Floriel runzelte die Stirn. „Die besten Reiter und Späher Alcedonias sind WIR! Kann es sein, dass wir, ohne dass ich es mitbekam, in Ungnade gefallen sind?“
„Sind wir nicht, Floriel!“ Gabhan unterdrückte ein Grinsen, während er von einem der Männer um sich zum anderen sah. „Wir haben einen Auftrag zu erfüllen, der mindestens so bedeutsam ist wie jener, Späher nach der Ursache für die Schwernis auszusenden. Er wird uns zuerst nach Klong führen. Möglicherweise noch in andere Länder Éirinns.“
„Was?!“, rief Floriel aufgebracht. „Das hält uns ja auf Dauer von der Heimat fern!“
„Nicht auf Dauer, so doch fünf Monate, drei Wochen und sieben Tage!“ Melvyn, der Schweigsame, hatte das Wort ergriffen. Selten genug tat er es, doch wenn er es tat, waren es bedeutungsvolle Worte.
„Woher willst du das so genau wissen?“, murmelte Dylan.
Melvyn, der Bogenschütze, dessen schulterlanges Haar tiefschwarz war, die Augen moosgrün, und der feine Gesichtszüge trug – seine hohen Wangenknochen bezeugten seine Herkunft von den Elfen aus den Wäldern Killarneys – lächelte leise. „Nach der genannten Zeit und ehe sich das letzte Mondfest im Jahr neigt, kehren die Elfen Alcedonias in ihre wärmenden Burgen und Häuser zurück, in die Baumhorte ihrer Wälder, ihre grünen Hügel, zu ihren Schilfbehausungen an den Ufern der Seen und Flüsse. Niemand von ihnen verlässt dann für die nächsten vier Monate auf mehr als einen Kilometer Entfernung seine Heimstatt.“
„Alles nur, weil die vermeintlich kalte, nasse und dunkle Jahreszeit anbricht und sich die Elfen Alcedonias außerhalb ihrer Wohnstätten Frostbeulen holen könnten. Ihr jammert, wenn es im Winter 4 Grad hat. Wir Elfen aus Wales klopfen uns in dieser Jahreszeit das Eis über einem Wasser auf, um hineinspringen und uns erfrischen zu können. Welch ein Aberwitz, dass ihr auf die Idee gekommen seid, euch „Elfen der Fischreiher“ zu nennen!“, spottete Dylan.
Floriel warf ihm einen flammenden Blick zu. „Elfen der Eisvögel! EISVÖGEL, du Waliser Holzkopf! Bei der zaubrigen Harfe Fìonan Fingals … ihr dort drüben in Wales seid alles grobe Holzköpfe! Nichts Feines, nichts für zaubrige Sommernächte auf Waldlichtungen. Nichts für zartklingende Weisen einer Laute auf den duftenden Wiesen Alcedonias im heraufziehenden Abendrot!“ Floriel machte eine abschätzige Geste. „Was versteht ihr Waliser Elfen schon vom Fluidum und dem ersten milden Ahnen, das über Alcedonia streicht und dem Frühling voran sich in die Lüfte webt.“ Floriels Stimme erhob sich um eine Oktave, wechselte ins Vortragen eines Gedichtes seines Lieblingspoeten Neachdainn Morgenstern (nicht verwandt mit Elmund, dem Weisen), der als der erlesenste Worteflechter im Königreich Alcedonia galt. „Wenn Tau auf des Winters Schwernis folgt, das Eise brechend, das funkelnd erste Knospen umhüllt …“
„Das Eis brechend ist ein gutes Stichwort, Freund!“, unterbrach ihn Dylan, der das Gesicht verzogen hatte, als wären jäh Zahnschmerzen über ihn gekommen. Kraftvoll hieb er auf den schweren Holztisch, worauf die gläsernen Humpen einen Satz nach oben machten. „Wenn wir nicht bald aufbrechen, werden wir nicht fünf Monate, sondern zehn unterwegs sein und du wirst durch eine Zeit beständiger Frostbeulen reisen müssen, Floriel!“ Ohne eine Antwort des verhinderten Poeten abzuwarten, dessen flammender Blick auf den Waliser dunkelrot geworden war, wandte sich Dylan an Gabhan. „Was ist das für ein Auftrag, der uns nach Klong führen wird oder auch quer durch Éirinn, Gabhan?“
„Nicht jetzt, Freunde!“, erklärte Gabhan ruhig, aber bestimmt. „Im Augenblick möchte ich nicht darüber sprechen. Doch bald werdet ihr alles erfahren.“
Keiner der Freunde drängte den jungen Prinzen, vor der Zeit preiszugeben, was offenbar so wichtig war, dass es sich in der Bedeutsamkeit mit den sich ausbreitenden Schatten in Éirinns Naturreichen messen konnte.
Melvyn nickte kaum merklich, als würde er den Grund bereits kennen, was jedoch nicht sein konnte. Mit sanfter Hand strich er über seinen Bogen, den erlesensten im ganzen Elfenreich Alcedonia, der im duftenden Holz aus der Eibe gefertigt war. Feinste Schnitzereien fanden sich darin. Darunter Abbildungen, die keines Menschen Auge jemals hätte ausmachen können, so zart waren sie ins Holz „eingewoben“. Und mit einem Zauber belegt, um sie vor jedem, der nicht befugt war, verborgen zu halten.
Seinen Bogen hielt Melvyn, wenn er saß, über den Oberschenkeln. Den Köcher mit Pfeilen, die aus demselben Holz gefertigt waren und ebenfalls mit zierlichen Ornamenten versehen, trug er immerfort auf dem Rücken. Jene Worte, die zwischen den Arabesken und Abbildungen eingewoben waren, waren Worte des uralten Alcedonia, die nur Eingeweihte auszusprechen vermochten und die bei ihrer Lautwerdung einen Zauber auslösten, der nur selten angewandt wurde.
Melvyn war einer der Hüter dieser außergewöhnlichen Bögen und Pfeile, von denen es nur wenige in Alcedonia gab. Es waren Pfeile, die Leben nicht nahmen, sondern schützten, ja retteten. Pfeile, die noch über weitaus andere Zauberkräfte verfügten.
Floriel schürzte in vermeintlicher Missstimmung die Lippen. „Auf Wochen also keine Feste im Burghof mit dem edlen Wein aus deines Vaters Keller, Gabhan. Und kein Stelldichein bei den schönen Maiden in den ringsum liegenden Dörfern, die nach meinem Fortgang in tiefe Betrübnis verfallen werden!“ Ihm leuchtete plötzlich die Sehnsucht in den Augen, während er in die Ferne sah. „Welch ein Opfer wir auf uns nehmen, Freunde, fern der Heimat zu sein und nicht zu wissen, ob wir jemals wiederkehren werden!“
Die Freunde schmunzelten. Selbst Gabhan hatte wieder Leichtigkeit erfasst. Am breitesten grinste Dylan, bei dessen stark knochigem Gesicht und den vollen Lippen ein Grinsen aussah, als hätte er einen Fisch hinter den Zähnen und wüsste nicht, ob er ihn schlucken oder wieder ausspucken sollte. Wobei Elfen, wie es kein Geschöpf des Naturreichs tat, Tiere verletzten oder gar töteten. Manchen walisischen Elfenmann drängte es jedoch, ein Tier, wenn ihm Gefahr drohte, zu seinem Schutz unter dem langen, weiten Umhang zu verbergen – oder eben hinter prachtvoll weißen und starken Zähnen. Bis die Gefahr gebannt war.
„Für wann hat der König unseren Aufbruch befohlen, Gabhan?“, fragte Elmund.
„Für morgen bei Tagesanbruch!“
***
Fortsetzung folgt …
(Monatlich … oder auch etwas später oder früher – Zeit könnte ein Luftstrom sein, der hier und da ist und auch dort, oder gleichzeitig überall – erscheint ein Kapitel)